Patellaluxation

Patellaluxation

Problemstellung

Im Rahmen der Zuchtselektion ist das Problem Patellaluxation gegenwärtig hochaktuell. Die betroffenen Rassehundverbände fordern international, so auch in Deutschland, die einheitliche züchterische Erfassung belasteter Zuchttiere und verlangen von den Tierärzten eine zuverlässige Diagnostik, weil der hohe Befallsgrad bei verschiedenen Rassen zu dringendem Handlungsbedarf zwingt. Seit längerer Zeit bemüht sich ein Arbeitskreis des Verbandes für das Deutsche Hundewesen (VDH), ein Selektionsverfahren für die Patellaluxation bei kleinwüchsigen Rassen zu etablieren. Die klinische, bei Bedarf röntgenologische Untersuchung der Tiere nach einem einheitlichen, reproduzierbaren Untersuchungsverfahren soll von Tierärzten durchgeführt werden. In Deutschland wurde auf Drängen des VDH eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich mit der Patellaluxation bei Hunden kleinwüchsiger Rassen wissenschaftlich und logistisch beschäftigt. Zentrale Forderungen sind dabei die verläßliche, standardisierte Untersuchung der Hunde durch dafür qualifizierte Tierärzte, sowie die einheitliche Befundung, Dokumentation und Bescheinigung (Formular, Eintrag in die Ahnentafel), um effektive züchterische Bekämpfungsverfahren einleiten zu können.
Bei der einheitlichen „Untersuchung auf Patellaluxation“ steht vorerst die klinische Untersuchung der Tiere im Vordergrund. Parallel dazu soll versucht werden, Hundebesitzer für zusätzliche röntgenologische Untersuchungen zu gewinnen. Hierfür werden Aufnahmen in Sedation/Narkose für erforderlich gehalten (Becken bis Tarsalgelenk v.d., gestreckt mit und ohne Rotation der Tibia, Sky Line Aufnahmen)

Klassifikation, Vorkommen

Die Luxatio patellae (Patellardislokation) ist eine der häufigsten Erkrankungen beim Hund. Wir unterscheiden die angeborene, kongenitale von der traumatisch bedingten Patellaluxation. Sie kann habituell oder stationär (permanent) auftreten und in den meisten Fällen nach medial, seltener nach lateral disloziert sein. Toy- und Miniatur–Hunderassen sind etwa 10 mal häufiger befallen als große Rassen. Zwergpudel, Yorkshire-Terrier, Chihuahua, Pekingesen, Papillons und Boston-Terrier haben ein hohes Risiko für mediale Patellaluxationen, gefolgt von Chow Chow, Mittelpudel, Cockerspaniel, Dachshund und Spitz. Weibliche Tiere sollen mehr als männliche Tiere befallen sein

Aetiologie und Pathogenese

Uneinigkeit besteht in der Literatur hinsichtlich der Aetiologie und Pathogenitätsmechanismen. Als aetiologische Hauptbasis ist Polygenie anzunehmen, die sich in Form familiärer Häufung manifestiert. Heterogenie ist offensichtlich. Aetiologische Zusammenhänge mit Veränderungen im Hüft- und Kniegelenkbereich werden von verschiedenen Untersuchern gefunden. Besondere pathogenetische Bedeutung haben die mechanisch-funktionellen Gegebenheiten im Hüft- und Kniegelenk. Einigkeit besteht darüber, daß es zur Patellaluxation kommt, wenn die Zugrichtung der Musculus quadriceps femoris Gruppe, die Trochlea ossis femoris mit ihrer Gleitbahn und der Ansatz des Ligamentum patellae an der Tuberositas tibiae nicht in einer Richtung liegen. Patellaluxationen werden einseitig oder beiderseits gefunden und sind im geringen bis hohen Maße ausgebildet (Einteilung nach Singleton, Grad I-IV).
Die laterale Patellaluxation kommt seltener als die mediale vor und wird zu 50% bei großen Hunderassen gesehen. Diese Form kann genetischen oder traumatischen Ursprungs sein und wird oft gemeinsam mit Genu valgum (X-Bein) gesehen. Genu valgum kann während der Wachstumsperiode bei großen Hunderassen Luxationen nach lateral verursachen.
Bei medialer Patellaluxation ist der Femurhalswinkel meist kleiner als 140° (Coxa vara), der Zug des Musculus quadriceps ist nicht achsengerecht, sondern nach medial verlagert. Es kommt zur Rotation des Tibiakopfes (Crista tibiae) nach medial bis zu 90° (Singleton I-IV) und Genu varum mit Verbiegung der proximalen Tibia.
Traumatisch bedingte Patellaluxationen können nach medial oder lateral erfolgen und sind altersunabhängig, oft sind sie mit anderen Verletzungen (Bänderriß, Meniskusschäden, Haut-und Muskelschäden) kombiniert.

Vorbericht

Im Vorbericht wird von Hunden mit habitueller, intermittierender Patellaluxation berichtet, daß die betroffene Extremität plötzlich für mehrere Schritte nicht belastet, dann gestreckt nach hinten gehalten wird, um danach wieder normal aufgesetzt zu werden. Bei permanenten Luxationen sind oft uni- und bilaterale Lahmheiten vorhanden. Bei großen Hunderassen mit schweren Wachstums- und Entwicklungsstörungen und deutlichem Genu valgum sind oft Fütterungs und Haltungsfehler zu eruieren.

Klinische Anzeichen

Die Mehrzahl der Hunde mit Patellaluxation ist jünger als ein Jahr. Lahmheit tritt zuerst meist im 4.-5. Lebensmonat auf. Die klinischen Anzeichen sind abhängig vom Grad der Luxation. Neben symptomlosen Luxationen, sehen wir schwere Beeinträchtigungen mit Bewegungsunlust, intermittierende oder permanente Lahmheiten einer oder beider Hinterextremitäten. Verbiegung der Femora und/oder der Tibiae sind typische Befunde. Die Tibiarotation nimmt mit dem Schweregrad der Luxation zu. (Singleton Grad I-IV) Stationäre Patellaluxationen nach medial sind oft mit geduckter Körperhaltung und Genu varum verbunden. Die Patienten können das betroffene Bein nicht strecken. Welpen mit angeborener, beiderseitiger Luxation nach medial hoppeln häufig schon sehr frühzeitig wie Hasen. Kleine Hunderassen mit luxierter Patella und kaum oder nicht angelegter Trochlea femoris bzw. medialem und / oder lateralem Rollkamm scheinen keine Schmerzen zu haben. Bei artifiziellem Luxieren der Patella über einen ausgebildeten Rollkamm zeigen diese Tiere aber meist deutliche Schmerzäußerungen.

Klinische Diagnose

Die Diagnose Patellaluxation erscheint einfach, sollte aber erst nach gründlicher klinisch-orthopädischer Untersuchung des Tieres gestellt werden, um Zusammenhänge zu sehen und wichtige Erkrankungen differentialdiagnostisch abzuklären, weil sonst auch der Erfolg operativer Behandlungen in Frage gestellt würde. (Genu valgum, Genu varum, Musculusquadriceps-Verlagerung, Meniskusschäden, Ruptur der Ligamenta cruciata oder -collateralia, Coxa valga, Coxa vara, Legg-Calve-Perthes-Erkrankung, arthrotische Erkrankungen, Hüftgelenksdysplasie). Die Patellaluxation ist nicht singulär zu sehen, sondern als muskuloskelettales Syndrom. Eine Subluxation und Luxation wird durch Palpation und Verschiebung der Patella erkannt. Die Beweglichkeit nach proximal und distal sowie die Luxierbarkeit nach lateral und medial ist in der gesamten Ausdehnung festzustellen. Sehr einfach läßt sich bei erkrankten Tieren die Patella (sub)luxieren, wenn mit einer Hand das Os femoris oberhalb des Kniegelenkes fixiert wird, wobei Zeigefinger und Daumen die Patella nach medial bzw. lateral drücken und die andere Hand den Metatarsus umfaßt und bei nicht ganz gestrecktem Kniegelenk und Tarsalgelenk die Zehen nach medial bzw. lateral rotiert werden.
Röntgenologisch können Patellaluxationen im lat.-lat. und v.-d- Strahlengang bestätigt werden, Grad I und II erst bei gehaltenen Aufnahmen (Stressaufnahmen). Mit „Sky Line“Aufnahmen kann die Tiefe der Trochlea femoris ebenso wie die Ausbildung der Rollkämme dargestellt werden. Wichtig ist diese Aufnahmetechnik zur Beurteilung von primären und sekundären Schäden vor einer Therapie sowie von Spätergebnissen nach operativen Korrekturen (Umbau der angelegten Trochlea, Osteoarthrosen). Mit der Sonographie kann die Tiefe der Trochlea gesehen und vermessen werden. Es lassen sich aber auch dynamisch-funktionelle Veränderungen aufdecken und Knorpelschäden im Trochleabereich diagnostizieren.

Therapie

Alle Tiere mit nichttraumatischer Patellaluxation sind von der Zucht auszuschließen. Erkrankten Patienten muß aber individuell geholfen werden. Konservative Methoden haben dabei eine untergeordneten Bedeutung. Bei Grad I, manchmal auch bei Grad II, die oft als Zufallsbefunde erkannt werden, kann in vielen Fällen auf die Therapie verzichtet werden, weil kaum Lahmheiten und selten arthrotische Veränderungen oder Schmerzen auftreten. In therapiewürdigen Fällen sind aussschließlich chirurgische Verfahren indiziert. Ziel aller chirurgischen Maßnahmen ist, die einwirkenden Kräfte auf die Patella so auszurichten, daß ihre gleitende Positon in der Trochlea gewährleistet ist und ein anatomisch und funktionell erhaltenes oder rekonstruiertes Femoro-Patellargelenk resultiert. Die operativen Verfahren kann man in stabilisierende und rekonstruierende einteilen, wobei Eingriffe an Weichteilen und am Skelett vorgenommen werden.

Prinzipien der operativen Therapie

Durchtrennung der Fascia genus mit und ohne Desmotomie des Retinaculum patellae
Faszien- und Gelenkkapselraffung
Fixation der Patella mit einem Faszienstreifen, Lig.-patellae-Anteilen oder synthetischem Material am Vesal’schen Sesambein
Verhinderung der Tibiarotation mit einer Faszienplastik oder synthetischem Material (Flo-Henschel-Methode) am Vesal’schen Sesambein und der Tuberositas tibiae
Korrektur der Zugrichtung des Musculus quadriceps durch Versetzen der distalen Ansatzstelle des Ligamentum patellae (Transposition der Tuberositas tibiae)
Korrektur eines Genu varum oder Genu valgum bei wachsenden Tieren (Wachstumsförderung bzw.-Verzögerung an einer Epiphysenseite, auch strikte Futterumstellung sowie Haltungs-u. Bewegungskorrekturen)
Korrektive Osteotomie bei älteren Tieren (Geraderichten des verbogenen Os femoris und/oder der Tibia )
Arthroplastik mit Schonung oder Entfernung des Gelenkknorpels im Trochleabereich
l. Trochlea-Keilvertiefung nach Slocum,
2. Erhaltung des Knorpels bei jungen Tieren (Chondroplasty)
3. Ausfräsen der Trochlea. (Trochleoplasty) Die Patella soll in ihrer Höhe zu 50% die Trochlea ausfüllen und auch seitlich (wenn nötig durch Anpassen ihrer Form) korrekt im Sulcus gleiten.
Einsetzen von Implantaten zur Erhöhung des Rollkammes bei Aplasie oder Hypoplasie eines Rollkammes (Kunststoff, Stahlbügel)
Transposition eines proximal gestielten Kapsel- Muskel- Faszienlappens.
Die Transposition eines Kapsel-Muskel-Faszienlappens ist besonders bei sehr jungen Hunden in Verbindung mit Korrekturmaßnahmen bei der Fütterung und Haltung zu empfehlen. Die besten (Langzeit)Ergebnisse werden durch die Transposition der Tuberositas tibiae und Trochlea-Keilvertiefungsplastik nach Slocum erreicht (auch kombiniert).

Funktionelle und anatomische Rekonstruktion Kombination durch verschiedener Operationverfahren:
Kapselraffung und/oder Patellafixation am Vesal’schen Sesambein
Transposition der Tuberositas tibiae

Trochlea-Keilvertiefungsplastik nach Slocum
Transposition der Tuberositas tibiae

Transposition eines proximal gestielten Kapsel-Muskel-Faszienlappens
Transposition der Tuberositas tibiae
Trochlea-Keilvertiefungsplastik nach Slocum

Trochlea-Keilvertiefungsplastik nach Slocum
Extrakapsuläre Rotationsfixation der Tibia nach Flo-Henschel

Operative Behebung von Kreuzband-, Meniskus-, oder Kollateral-bandschäden bei traumatischer Patellaluxation

Genu valgum-, Genu varum -Korrektur, Diätetische Maßnahmen

Prognose

Die Prognose bei der operativen Therapie ist abhängig vom Schweregrad der Patellaluxation. Grad I ist in den wenigsten Fällen behandlungsbedürftig. Bei allen höheren Graden ist die Prognose, auch abhängig von der Dauer der Erkrankung und den anatomisch-funktionellen Veränderungen, vorsichtig zu stellen. Rezidivgefahr ist bei allen Operationsmethoden gegeben. Wissenschaftlich überprüfte Langzeitergebnisse an aussagekräftigen Patientenzahlen bei unterschiedlichen Rassen mit verschiedenen Methoden liegen in verläßlicher Form in noch nicht ausreichendem Maße vor. Von besonderer Bedeutung sind in der Zukunft nicht nur die individuellen Behandlungen von Einzeltieren mit weiterentwickelten operativen Methoden, sondern systematische, selektive züchterische Maßnahmen, die von den Zuchtverbänden organisiert und durchgeführt, aber von uns Tierärzten durch eine wissenschaftlich begründete, standardisierte, zuverlässige und reproduzierbare Diagnostik unterstützt werden müssen.

Prof. Dr. E. Schimke, Giessen